David gegen Goliath: Das LAG München und der Fall 11 Sa 456/23

Das Landesarbeitsgericht München hat eindrücklich bewiesen, dass Arbeitsrecht überaus unterhaltsam sein kann – zumindest wenn ein Jurastudent beschließt, seine theoretischen Kenntnisse praktisch zu testen. Der „Fall 11 Sa 456/23“ liest sich wie eine Mischung aus Lehrbuch für Arbeitsrecht und Drehbuch für eine Sitcom über das Gastronomiegewerbe. Spoiler: Der Student gewinnt – und zwar so richtig.

Der Sachverhalt: Wenn Theorie auf Praxis trifft

Ein Jurastudent arbeitete ab 2018 als Kellner und Barpersonal bei einem Münchner Gastronomiebetrieb. Was hätte schief gehen können? Nun, aus Arbeitgebersicht: so ziemlich alles. Denn dieser Student zapfte nicht nur Bier, sondern führte auch akribisch Buch über seine Arbeitszeiten – eine Gewohnheit, die sich später als ausgesprochen lukrativ erweisen sollte. Man könnte sagen: Er studierte nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern sammelte nebenbei auch gleich das Anschauungsmaterial.

Die Arbeitsorganisation folgte dem bewährten Gastro-Muster: Dienstpläne über WhatsApp (weil wer braucht schon schwarze Bretter?), keine schriftlichen Arbeitsverträge (wozu auch, Handschlag genügt!), und Vergütung im Minijob-Rahmen. Soweit die Theorie. Die Praxis? Nun, da wurde es kreativ: Vorbereitungs- und Nacharbeiten gehörten selbstverständlich dazu – aber vergütet? Das war wohl ein Missverständnis. Dazu ein raffiniertes System von Abzügen: 2 Euro „Gläsergeld“ pro Schicht (weil saubere Gläser sind schließlich Luxus) und Waschkosten für die Dienstkleidung zu Lasten des Kellners. Betriebswirtschaftlich durchaus innovativ – rechtlich eher… nun ja.

Der Wendepunkt: Betriebsrat gründen für Dummies

Im Sommer 2021 beschloss der Kläger, seine theoretischen Kenntnisse des Betriebsverfassungsrechts in die Praxis umzusetzen. Gemeinsam mit Kollegen initiierte er die Gründung eines Betriebsrats. Die Reaktion der Geschäftsleitung war … sagen wir: sub-optimal. Von „begeistert“ war sie etwa so weit entfernt wie Bayern München vom Abstieg.

Es folgte eine Betriebsversammlung, die das Gericht später diplomatisch als „gestört durch Externe“ beschrieb – darunter Familienmitglieder der Geschäftsführung nebst Kindern. Man könnte es auch als „bring your family to work day“ bezeichnen, nur dass niemand eingeladen war und es um Mitbestimmung ging, nicht um Mittagessen.

Kurz nach dieser denkwürdigen Versammlung erhielt der Betriebsrats-Initiator eine außerordentliche Kündigung. Ein Timing, das selbst für Nicht-Juristen als „interessante Koinzidenz“ durchgehen könnte.

Die Klage: Ein juristisches Feuerwerk mit Stil

Der Student bewies, dass er seine Vorlesungen nicht verschlafen hatte. Seine Klage war ein wahres Kompendium arbeitsrechtlicher Ansprüche – sozusagen das juristische Äquivalent zu einem Sieben-Gänge-Menü:

  • Nachzahlung für unvergütete Arbeitszeiten (der Klassiker)
  • Annahmeverzugslohn für nicht eingeteilte Schichten (für Fortgeschrittene)
  • Rückerstattung von Gläsergeld und Waschkosten (die Kür)
  • Schadensersatz nach dem AGG (warum nicht?)
  • Aufnahme in die WhatsApp-Dienstplangruppe (der moderne Clou)
  • Unwirksamkeit der Kündigung und Weiterbeschäftigung (das große Finale)

Besonders pikant: Die Aufnahme in eine WhatsApp-Gruppe als einklagbarer Anspruch. Wer hätte gedacht, dass der Satz „Du bist nicht mehr in der Gruppe“ einmal Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung werden könnte? Das Internet vergisst nichts – und das Arbeitsrecht offenbar auch nicht.

Die Verteidigung: Flexibilität als Universalargument

Die Beklagte setzte auf die bewährte Gastro-Verteidigung: Minijob-Status, flexible Abrufarbeit, eigenverantwortliche Schichtplanung. Der Kläger sei schließlich nur eine Aushilfe gewesen, die sich gelegentlich auch mal unentschuldigt nicht gemeldet habe. (Ein Vorwurf, der in der Gastronomie etwa so überraschend ist wie Regen im November.)

Die WhatsApp-Gruppenzugehörigkeit? Reine Organisationsfrage! Warum sollte man denn bitte jeden x-beliebigen Beschäftigten in die heiligen Hallen der digitalen Dienstplanung aufnehmen müssen? Das wäre ja, als würde man jedem Bankkunden auch gleich den Tresorschlüssel geben!

Die Entscheidung: Wenn Richter WhatsApp entdecken

Das LAG München bewies, dass auch Juristen ein Händchen für Ironie haben. Die Richter entwickelten eine bemerkenswert zeitgemäße Rechtsprechung: Wer als Arbeitgeber seine Kommunikation komplett auf WhatsApp verlagert, kann anschließend nicht so tun, als sei das alles nur ein großer Spaß unter Freunden.

Die bahnbrechende Erkenntnis: WhatsApp-Gruppen sind das digitale Pendant zum schwarzen Brett – nur bunter und mit mehr Emojis. Und genau wie beim schwarzen Brett haben Beschäftigte auch hier Informationsrechte. Revolutionary!

Die finanziellen Konsequenzen: Jackpot im Gerichtssaal

Das Gericht rechnete gründlich ab – und der Kläger durfte sich über eine Summe freuen, die deutlich über seinem bisherigen Semesterbeitrag lag. Jahre von Mindestlohnverstößen wurden ebenso korrigiert wie kreative Kostenwälzungen. Das berühmte „Gläsergeld“ – eine Art Luxussteuer auf sauberes Geschirr – erwies sich als rechtlich so haltbar wie ein Soufflé im Erdbeben.

Besonders schmerzhaft für die Beklagte: Teile der Forderungen wurden als vorsätzliche unerlaubte Handlung qualifiziert. Das ist die juristische Art zu sagen: „Das war nicht nur falsch, das war richtig falsch.“ Eine Einordnung, die in etwa so selten ist wie ein Vegetarier in einem Steakhouse.

Die WhatsApp-Revolution: „Bitte alle mal in die Gruppe!“

Der Höhepunkt des Urteils war die Verpflichtung zur Aufnahme in die WhatsApp-Dienstplangruppe. Das Gericht erkannte mit bestechender Logik: „Wer nicht informiert wird, kann nicht arbeiten.“ Eine Erkenntnis, die so simpel ist, dass man sich fragt, warum darüber überhaupt gestritten wurde.

Die Richter machten damit klar: Moderne Arbeitsorganisation entbindet nicht von klassischen Informationspflichten. Oder anders gesagt: Man kann seine Beschäftigten nicht digital ghosten und dann überrascht sein, wenn sie nicht zur Schicht erscheinen. WhatsApp mag Social Media sein – aber Arbeitsrecht bleibt Arbeitsrecht, auch wenn es über Messenger läuft.

Rechtliche Einordnung: Tradition trifft Innovation

Der Fall demonstriert eindrucksvoll, wie sich bewährte arbeitsrechtliche Grundsätze in der digitalen Arbeitswelt bewähren. Die Kernprinzipien – Lohnschutz, Informationsrechte, Schutz vor Benachteiligung – gelten unabhängig vom Kommunikationsmedium.

Die Entscheidung zur Betriebsratsverhinderung folgt etablierter Rechtsprechung, gewinnt aber durch die moderne Arbeitsorganisation zusätzliche Brisanz. Wer Beschäftigte systematisch von digitalen Kommunikationswegen ausschließt, riskiert nicht nur arbeitsrechtliche, sondern auch betriebsverfassungsrechtliche Konsequenzen.

Praktische Konsequenzen: Ein Leitfaden für lernfähige Arbeitgeber

Die Entscheidung sollte Gastronomiebetriebe (und andere Branchen mit ähnlicher Kreativität) zum Nachdenken bewegen:

  1. WhatsApp ist kein rechtsfreier Raum: Nur weil es kostenlos ist, heißt das nicht, dass es folgenlos ist
  2. Arbeitszeit beginnt beim Umziehen: Auch die 30 Sekunden für die Schürze zählen (wirklich!)
  3. Betriebskosten gehören nicht in die Lohnabrechnnung: „Gläsergeld“ ist keine Währung
  4. Betriebsräte sind keine Naturkatastrophe: Sie lassen sich nicht durch Familienausflüge verhindern

Die Moral von der Geschicht‘: Wer meint, Arbeitsrecht sei so flexibel wie Pizzateig, der irrt gewaltig. Manche Regeln sind so unveränderlich wie die Schwerkraft – und genauso schmerzhaft, wenn man sie ignoriert.

Das Ende: Wenn David Goliath mit dem Gesetzbuch besiegt

Das LAG München hat mit diesem Urteil bewiesen, dass Arbeitsrecht durchaus zeitgemäß sein kann, ohne seine Prinzipien über Bord zu werfen. Die Richter zeigten: Auch in der digitalen Arbeitswelt gelten die bewährten Schutzrechte – sie kommen nur im neuen Gewand daher.

Für Beschäftigte in ähnlichen Situationen ist die Botschaft kristallklar: Es lohnt sich, seine Rechte zu kennen. Und noch mehr lohnt es sich, sie durchzusetzen – vor allem, wenn man zufällig gerade Jura studiert und genug Zeit hat, ein paar Jahre vor Gericht zu verbringen.

Die Beklagte hingegen hat eine wertvolle Lektion gelernt: Manchmal ist der unscheinbare Jurastudent hinter der Bar gefährlicher als jeder Konkurrent. Wer hätte gedacht, dass die größte Bedrohung für ein Gastro-Unternehmen nicht schlechte Bewertungen sind, sondern ein Student, der seine Arbeitszeiten dokumentiert?


Anmerkung der Redaktion: Der Fall bewegte sich finanziell im sechsstelligen Bereich. Das ist ungefähr so viel, wie manche Gastronomen in einem guten Jahr verdienen – nur dass es hier in die andere Richtung floss. Man könnte sagen: Der Student hat sein Studium selbst finanziert. Chapeau!

Recht kurzweilig
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