Die Grundstücksgrenze ist (nicht immer) ein Tabu

Kein Grundstückseigentümer muss Grenzverletzungen dulden, seien es Verschiebungen oder Überbauungen beziehungsweise baulicher Überhang. Doch dieser Grundsatz wird in der Praxis gar nicht selten „verschoben“ – was nicht unbedingt absichtlich geschehen muss, doch durchaus auch in Kauf genommen wird. Im Einzelfall muss nämlich von den Gerichten beurteilt und entschieden werden, ob ein Abriss oder Rückbau gefordert werden kann. Abgewogen wird dabei das Recht des Eigentümers und das desjenigen, der dieses Recht verletzt. Doch wie, so fragt man sich, kann einem Schädiger einen Anspruch zugesprochen werden? 

Verhältnismäßigkeit muss gegeben sein

Es werden schlicht nicht die Fakten herangezogen, sondern die wirtschaftlichen Folgen für jede Partei berücksichtigt. Der geschädigte Grundstückseigentümer hat in der Regel lediglich theoretische finanzielle Einbußen und das auch nur dann, wenn er sein Grundstück verkaufen möchte. Inwieweit ein oder auch einige Quadratmeter – zu werten je nach Grundstücksgröße – dabei ins Gewicht fallen, ist fraglich. Somit wird kein Bauherr verurteilt werden eine Hauswand wieder abzureißen, weil sie auf oder um wenige Zentimeter über der Grundstücksgrenze errichtet wurde. 

Um Rechtssicherheit zu schaffen und dingliche Härten sowie Unverhältnismäßigkeit zu verhindern, wurden die §§ 912 ff. BGB geschaffen. Sie sollen für einen Interessenausgleich zwischen den Eigentümern führen und die Nachbarschaft auf Dauer befrieden. Dies kann, so der Plan des Gesetzgebers, nur durch einen angemessenen Geldbetrag erreicht werden. Dieser muss auf Dauer als Rente jährlich im Voraus entrichtet werden. Zugrundegelegt für die Berechnung wird der Verkehrswert der überbauten Fläche zur Zeitpunkt der Grenzüberschreitung. Darüber hinaus kann der Geschädigte jederzeit verlangen, dass der Schädiger den überbauten Grundstücksteil ohne Anrechnung der bis dahin bezahlten Rente zum Verkehrswert erwirbt.

Die Duldungspflicht hat Grenzen

Das zugrundeliegende juristische Konstrukt nennt sich Duldungspflicht, wobei die Pflicht nicht im Wortsinn grenzenlos ausgedehnt werden darf. Sie basiert auf einigen Regeln, die gesetzlich festgelegt und vom Gericht zu prüfen sind. So darf kein Vorsatz erkennbar sein oder grobe Fahrlässigkeit vorliegen. Letztere wäre gegeben, wenn sich der Bauherr nachweislich nicht zum genauen Grenzverlauf kundig macht oder kein Unternehmen beauftragt, das für ihn zu übernehmen. Im Zweifel ist stets im Vorfeld eine korrekte Vermessung vorzunehmen. Infrage kommt also nur ein Fehler bei der Bauausführung selbst.

Erkennt der Geschädigte die Verletzung seiner Rechte, hat er umgehend aktiv zu werden, gegenüber dem anderen Grundstückseigentümer seinen Schaden zu erklären und gegebenenfalls einen Baustopp zu verlangen. Zwar handelt es sich laut Gesetzestext um eine Regelung, die Neubauten betrifft, jedoch legten die Gericht in der Vergangenheit die Vorschriften analog auch für Anbauten aus. Ein Beispiel könnte das Anbringen eines Wärmeschutzes an der Fassade sein (OLG Köln, Az.: 19 U 75/02).

Grundsatz: tragende Gebäudewände

Nicht unter die Duldungspflicht fallen alle mit relativ wenig Aufwand zu entfernenden Anbringungen wie Verdunkelungs- und Beschattungsanlagen oder Balkone. Ebenfalls nicht betroffen sind Zäune und Mauern sowie Carports. Die Vorschriften behandeln ausschließlich tragende Mauern von festen Gebäuden. Ebenfalls nicht hinzunehmen sind weitere Schädigungen, die von dem Überbau ausgehen. Übrigen betrifft das Rechtsverhältnis des zu duldenden Überbaus nur Grundstückseigentümer, nicht Mieter oder Pächter (OLG Schleswig, Az: 1 U 173/13).